Nebra entschlüsselt!

 

Interpretationen auf der Basis spärlicher Fakten zählen sicherlich nicht zu den einfacheren Tätigkeiten in der Wissenschaft. Eine Herausforderung jedes Archäoastronomen ist die als „Himmelsscheibe von Nebra“ bekannt gewordene Bronzeplatte, die auf ein Alter von 3700 bis 4100 Jahre datiert wird. Damit darf der Fund als weltweit älteste konkrete Himmelsdarstellung angesprochen werden.

Doch schon die Entdeckung im Jahr 1999 in einer Steinkammer auf dem Mittelberg in Sachsen-Anhalt mutet an wie eine Räuberpistole. Mit einem Metalldetektor fanden zwei Raubgräber nahe der Stadt Nebra mehrere Objekte, die bereits am Tag darauf für 31.000 DM bei einem Kölner Händler landeten und über Mittelsmänner weiterverkauft wurden, bis 2002 in einem Schweizer Hotel ein agentenmäßig vorgetragener Scheinkauf durch den Landesarchäologen dem illegalen Treiben ein Ende setzte. Die Scheibe wurde beschlagnahmt, alle Akteure verhaftet und nun ruht die Himmelsdarstellung beim rechtmäßigen Eigentümer, dem Land Sachsen-Anhalt, das sie dem Bestand des Landesmuseums für Vorgeschichte in Halle zuführte. Der Versicherungswert liegt inzwischen bei 100 Millionen Euro.

Ein Krimi, der vor der Interpretation nicht halt macht. Dem Regiomontanusboten ist es gelungen, die sog. R-Deutung der Symbole erstmals zu veröffentlichen. Doch lesen Sie selbst!

 

R-Deutung der Himmelsſcheibe

 

Wenn in der Geſchichte ein Rückſchritt von höherentwickeltem Wiſſen ins Vergeſſen statt­findet, wie zum Beiſpiel von der klaſſischen Antike ins chriſtliche Mittelalter, ſo braucht es dafür einen guten Grund. Andernfalls, zum Beiſpiel für die frühe Bronzezeit, gehen wir beſſer vom Gegenteil aus: Die Symbolik entwickelte ſich in drei Phaſen weiter.


 

 

 

                Phaſe 1 

                       1, 2, 3 :              Sonne, Mond und Sterne

 

                Phaſe 2

                       ½ , 1, * :            29,5 Tage von Vollmond zu Vollmond

 

                Phaſe 3

                       1, 2, 3, 4 :          Vollmond, Neumond, Sichel und Barke

 

                       2 :                      Ekliptik

Phaſe 1

 

Bei der erſten Überlegung, die aſtronomiſchen Komponenten des Himmels abzubilden, ſpielen natürlich Sonne, Mond und Sterne eine Rolle. Dieſe zeigt die Himmelsſcheibe von Nebra.

Die Figürlichkeit der Sternbilder wird abſtrakt ſymboliſiert durch die „Blüte“ aus ſieben Scheibchen, denn die markanteſten Sternbilder wie Großer Wagen oder Orion beſtehen aus je ſieben Hauptſternen. Bei den Römern gab die Sieben nicht nur dem Großen Wagen den Namen, ſondern auch der Nordrichtung im Allgemeinen: „Septentrio“. Jedenfalls zeigt ſie nicht eine beſtimmte Konſtellation wie etwa die Plejaden, die ſich aus nur ſechs deutlichen Sternen zuſammen­ſetzen und die eine ganz andere Geſtalt bilden.

Stattdeſſen kommt in der ſpeziellen Form der „Blüte“ eine noch tiefere aſtronomiſche Erkenntnis zur Geltung: Die ſcheinbare tägliche und jährliche Bewegung des Himmels um den Pol. In der Bronzezeit gab es keinen Polarſtern; der nächſte helle Stern war β Uma, er ſtand in einiger Entfernung vom Himmelsnordpol. So liegt denn auch das zentrale Scheibchen verſetzt zum Mittelpunkt des umgebenden Kreiſes. Die ſechs Scheibchen und ſechs Zwischenräume unterteilen eine Umdrehung in zwölf Monate bzw. zwölf „Stunden“.

Wie viele Sterne ſoll die Scheibe zeigen? Für eine geeignete Menge bot ſich dem vorgeſchichtlichen Gelehrten eine Anzahl an, die durch fortgeſetzte Verdoppelung entſteht: 32 = 25. Zieht man davon die Sternanzahl der „Blüte“ ab, ſo bleiben 25 = 52 übrig. Eine bemerkenswerte Zahlenſpielerei zum Vertauſchen von Exponent und Baſis, unabhängig vom Zahlen­ſystem.

Zwei mal vier Sterne liegen auf je einer Geraden. Der Scheitel des von dieſen gebildeten Winkels liegt am Ort der in Phaſe 2 noch anſchaulicher markierten und im Jahreslauf wichtigen Winter­ſonnenwende, dem ſpäteren Weihnachten. In Phaſe 1 allerdings noch für Beobachtungsorte wenige Breitengrade nördlicher als Nebra. Bei allen anderen Sternſcheibchen liegen zumeiſt drei von ihnen auf je einem noch aſtronomiſch zu deutenden Kreisbogen ;-)

 

Phaſe 2

 

Hier wurden die in der Literatur überzeugend beſchriebenen Horizontbögen zu je 82° eingefügt. Sie entſprechen der nördlichen Breite von Nebra einſchließlich der aſymmetriſchen Verſchiebung nach Norden aufgrund der atmoſphäriſchen Refraktion.  

Bei dieſer Gelegenheit und aus der Notwendigkeit des Platzbedarfs änderten die alten Aſtronomen die Anzahl der Sterne auf die Anzahl der Tage eines ſynodiſchen Monats: 29½. Aber wie ſymboliſiert man Einhalb? Durch einen halben Stern, ſo wie links, der bei all der Kunſtfertigkeit wohl nicht aufgrund von Unfähigkeit entſtand. Hätte man diesen Stern lediglich verſetzen wollen, dann ſicherlich nicht ſo ſtümperhaft.

In dieſer Phaſe wandelt ſich die Bedeutung der vollen Scheibe  von der Sonne hin zum Vollmond.

 

Phaſe 3

 

Deutet man nun die Elemente der Scheibe als Mondphaſen, ſo präſentiert ſie Mondſichel, Vollmond, Neumond und den Mond unter dem Horizont: Bei Neumond zeigt der Nachthimmel nur die Sterne; dieſe ſind nun beſonders gut ſichtbar, ſymboliſiert durch die „Blüte“. Den Mond unter dem Horizont gibt die jetzt neu eingefügte Barke wieder: Zum einen unterſtreicht ſie als ſchwimmender Kahn auf der Meeresoberfläche die Gleichſetzung des Scheibenumfangs mit dem Horizontkreis; wie Phaeton bringt ſie ihr Geſtirn zurück. Zum anderen verdeutlicht ihre Form eines ſchaukelnden Schiffes noch den periodiſchen Wechſel der Mondphaſen.

Wir teilen unſere modernen Mondphaſen anders ein. Aber in Zeiten ohne elektriſchem Licht, in der, wie in den Bögen aus Phaſe 2 bekräftigt, Horizontaſtronomie betrieben wird, hat natürlich die Phaſe, in der der Mond unter dem Horizont ſteht, eine weſentliche Anſchauung.

Merkwürdiger als die momentane Deutung nach Schaltmonaten ſcheint mir dieſe hier auch nicht zu ſein. Immerhin: Papier iſt geduldig.

 

Ihr

Iokus C. Aprilium

 

 

Literatur: Regiomontanusbote 2/13 der Nürnberger Astronomischen Arbeitsgemeinschaft.

Zu einer anderen großartigen Meldung im selbigen Monat des Jahres 2011: Nichtlinearer Computer